März 2002
Grady Nash hielt Sidney Wilks Hand, als der Pfarrer das letzte Gebet sprach. Die vergangenen Tage waren für alle schwer gewesen, aber Sidney schien Alan Ballentines Tod besonders hart zu treffen.
„Amen“, antwortete die versammelte Trauergemeinde im Chor.
Alans engste Familienmitglieder traten nacheinander zu dem Sarg und nahmen eine weiße Rose aus dem Trauergesteck. Josh Ballentine, einer von Sidneys ältesten Freunden, drehte sich um und winkte ihn nach vorne.
Sidney schüttelte den Kopf und Nash drückte aufmunternd seine Hand. „Ich glaube, er will dir was sagen“, flüsterte Nash.
„Ich gehöre nicht zur engsten Familie,“ murmelte Sidney.
„Doch, tust du.“ Nash legte die Hand in Sidneys Kreuz und schob ihn Schritt für Schritt auf die wartende Ballentine-Familie zu.
Josh zog Sidney als erster von Nash weg in seine Arme. „Ich habe dich sehr gern“, sagte Josh zu Sidney.
„Ich dich auch“ wisperte Sidney zurück.
Nash sah zu, wie die Ballentine-Brüder alles taten, um Sidney davon zu überzeugen, dass er wirklich Teil der Familie war. Jemand tippte Nash auf die Schulter, er wandte sich um und sah Peter. „Hallo“, sagte Nash mitfühlend.
„Du hast doch nicht geglaubt, dass du ohne Umarmung davonkommst, oder?“, fragte Peter und umarmte Nash.
Alans unerwarteter Herzinfarkt hatte alle erschüttert. Nash versuchte zwar, seinem Partner von achtzehn Jahren nicht zu zeigen, wie besorgt er war, aber alte Ängste wurden wieder wach. Nash ging es zwar besser, als er sah, wie Sidney und die Ballentine-Brüder sich sofort um Maggie scharten, aber er überlegte unwillkürlich, ob Sidney sich genauso gut halten würde, wenn er an Maggies Stelle wäre.
„Ich glaube nicht, dass Mama in absehbarer Zeit Sidneys Hand loslässt“, sagte Peter zu Nash. „Du kannst auf dem Heimweg bei uns mitfahren.“
Nash wartete, bis Sidneys Blick auf ihn fiel. Er deutete auf Peter und dann auf den gemieteten Kleinbus. Sidney nickte und warf Nash eine Kusshand zu. „Geht klar“, sagte Nash zu Peter.
Nash schüttelte noch ein paar Hände und wurde von jedem Bruder kurz umarmt, dann folgte er Peter zum Bus. Bobbi, die mit Zwillingen schwanger war, saß auf dem Vordersitz. „Was schauen wir an?“, fragte Nash Peters vierjährige Tochter Kati und setzte sich zu ihr auf den Rücksitz. „Rapunzel“, antwortete Katie. Sie sah Nash an. „Hast du das schon gesehen?”
„Nein, hab ich nicht.” Nash sah zu dem kleinen Fernsehschirm hoch, der innen am Autodach befestigt war. „Wie ich klein war, hätte ich sowas ganz toll gefunden.“
Kati verlor schnell das Interesse an ihm und schaute sich wieder den Film an. Er streckte den Arm aus und legte die Hand auf Bobbis Schulter. „Wie steht’s bei dir?“
„Mir geht’s gut. Wie geht’s Sidney?“, fragte Bobbi.
Bobbi kannte Nash fast so gut wie Sidney. Es hatte Zeiten gegeben, als Nash auf den hitzigen Rotschopf eifersüchtig gewesen war, aber er hatte schnell gemerkt, wie sehr sie Sidneys Leben aufheiterte. „Er versucht, sich zusammenzunehmen, aber heute früh habe ich ihn unter der Dusche weinen hören.“
„Das habe ich befürchtet.” Bobbi legte ihre Wange an Nashs Handrücken. „Ich habe gestern Abend versucht, mit ihm zu reden, aber er hat sich geweigert, über Alan zu sprechen.“
„Ich glaube geweigert ist das falsche Wort“, mischte sich Peter ein. „Es war einfach zu gefühlsbeladen für ihn.“
„Richtig“, stimmte Nash ihm zu. „Ich wäre fast zu ihm unter die Dusche gesprungen, aber ich hab es gelassen und entschieden, dass er auf seine Weise damit fertigwerden muss. Ich war dabei, als seine Mutter gestorben ist und sein Vater, der Dreckskerl, ihm nicht erlaubt hat zu trauern. Außerdem Sidney für seinen Vater nicht dasselbe empfunden wie für Alan. Ich glaube, er darf zum ersten Mal auf seine Art mit dem Tod von jemandem fertigwerden, den er geliebt hat.“
„Pa hat euch beide geliebt”, sagte Peter.
Nash nickte. „Ich weiß und ich habe ihn auch sehr gemocht, aber ich denke für Sidney ist es anders. Als ich aufgewachsen bin, hatte ich wirklich einen tollen Vater, aber Sidney …“
„Ja, ich glaube, deswegen hat es Pa so viel Freude gemacht, mit Sidney Zeit zu verbringen.“ Peter lachte leise auf. „Ich schätze mal, wenn man mit tollen Eltern aufwächst, nimmt man das irgendwann als selbstverständlich hin. So war Sidney nicht. Meine Eltern haben es total genossen, wie er sie angehimmelt hat, wenn er grade da war.“
Ein paar Minuten später kamen sie am Haus der Ballentines an. In der Einfahrt befanden sich bereits zahlreiche Autos, Leute versammelten sich, um ihre Aufwartung zu machen. Nash verabscheute dieses spezielle Ritual. Als sein Vater im Dienst getötet worden war, waren Leute, die ihr Beileid ausdrücken wollten, tagelang in Nashs Zuhause gekommen. Erst als er endlich mit seine Mutter alleine gelassen wurde, durften sie richtig um den großartigsten Mann trauern, den Nash je gekannt hatte.
„Nash? Steigst du aus?“, fragte Bobbi.
Nash schüttelte den Kopf. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht mal bemerkt hatte, wie Peter Kati aus dem Kindesitz nahm. „Hat euch Sidney jemals von dem Tag erzählt, als seine Mutter begraben wurde?“
Bobbi lehnte sich an die offene Schiebetür des Autos und lächelte. „Nein. Er redet selten von seinem Leben vor dir.”
„Schon als kleiner Junge hatte Sidney irgendwas, was mich zu ihm hingezogen hat, nur war es damals der Drang, ihn zu beschützen.“
„Du beschützt ihn immer noch”, sagte Bobbi.
„Wir beschützen uns gegenseitig. Zuerst habe ich mich um ihn gekümmert, um Sidneys Mutter einen Gefallen zu tun. Als Elizabeth erfahren hat, dass sie an Krebs sterben würde, hat sie sich Sorgen um Sidney gemacht. Herrgott, nicht mal zu der Zeit war Jackson ein brauchbarer Vater. Wie mich also Elizabeth gebeten hat, ein Auge auf Sidney zu haben, war das ein Versprechen, das ich halten musste, egal, wie oft Jackson versucht hat, mich von der Ranch zu scheuchen.“
„Und jetzt schaut euch bloß mal an“, sagte Bobbi.
„Ja, aber manchmal, wenn ich ihn ansehe, so wie heute, sehe ich immer noch diesen verlorenen, kleinen Zehnjährigen, dem die Mutter weggestorben ist.“ Nash schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. „Wenn mir was zustößt, glaube ich nicht, dass er die Kraft hat, das durchzustehen.“
Bobbi saß jetzt auf dem Boden des Autos und legte ihre Hand auf Nashs Knie. „Gibt es irgendwas, was du mir nicht sagst?“
Nash merkte, dass Bobbi seine Worte missverstanden hatte. „Nein, zurzeit fühle ich mich gut.“ Er rieb sich unwillkürlich über die Brust. „Aber wir wissen doch beide, dass ich einen zweiten Herzinfarkt haben könnte und das nächste Mal habe ich vielleicht nicht so viel Glück. Ich rede mir ja selber ein, dass ich nicht drüber nachgrübeln darf, aber wenn man jemanden so innig liebt wie ich Sidney, ist es halt schwierig, sich keine Sorgen zu machen.“
Mit Tränen in den Augen sah Bobbi zu Nash auf. „Ich habe heute meinen Schwiegervater begraben. Ich bin noch nicht so weit, dich auch zu begraben, aber falls das jemals passieren sollte, hat Sidney einen Haufen Leute, die ihn sehr liebhaben.“
„Ich weiß.“
„Und wir werden ihm helfen, das durchzustehen“ fuhr Bobbi fort. „In der Zwischenzeit werde ich alles tun, was ich kann, um sicherzustellen, dass du auf dich achtgibst. Nur weil ich sage, dass wir Sidney helfen, wenn dir was zustößt, heißt das ja nicht, dass wir das wollen.“
Nash legte seine Hand an Bobbis Wange. Diese verrückte Rothaarige nörgelte ständig an Peter herum, dass er sich richtig ernähren müsste. Nash wusste, dass sie das aus Liebe tat, daher würde es ihm wahrscheinlich nichts ausmachen, wenn sie auch auf ihn ein wachsames Auge hätte. „Okay.“ Er zeigte auf die ankommende Limousine. „Sidney wird eifersüchtig, wenn er uns hier sitzen sieht.“
Bobbi grinste. „Stimmt, er hat mich immer für sich allein gewollt.“
Nash half Bobbi auf die Füße und stieg aus dem Bus. Er sah zu, wie Sidney aus dem Auto ausstieg und auf das Haus zuging. Er merkte nicht, dass man ihn beobachtete. „Er wird immer knackiger“, murmelte er.
„Heb’s dir für ihn auf.“ Bobbi rieb sich den Schwangerschaftsbauch im letzten Trimester und hängte sich bei Nash ein. „Wenn ich mich nicht bald hinsetze, explodieren meine Knöchel.“
„Das wollen wir aber nicht.“ Nash führte Bobbi die Eingangstreppe hinauf. Bevor er sie losließ, umarmte er sie. „Danke“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Und ich verlasse mich auf dein Versprechen.”