Sam Burgman starrte aus seinem Bürofenster im 23. Stock auf die tiefhängenden schwarzen Wolken. Normalerweise liebte er es, zu beobachten, wie das Wetter über die Landschaft fegte, doch jetzt deutete der aufkommende Sturm nur auf die emotionalen Turbulenzen hin, die ihm bevorstanden.
Laut Ian Mendoza, dem Pfleger seiner Mutter, blieben Gloria Burgman nur noch ein paar Wochen, vielleicht ein Monat, ehe sie dem Krebs verfiel, der an ihrem ohnehin schon zerbrechlichen Körper zehrte. Sam interessierte nicht, was die Leute sagten – eine geliebte Person leiden zu sehen, war schlimmer, als sie sterben zu sehen.
Der Blitzschlag, der den Himmel erhellte, fühlte sich an, als hätte er den Weg direkt in Sams Herz gefunden. Es gab keinen Weg der Wiedergutmachung für ihn. Seine Mutter hatte eine Person auf der Welt, die hätte wissen sollen, was vorging, die hätte da sein sollen, und Sam hatte versagt, weil er zu eingespannt gewesen war, um regelmäßig nach Hause zu kommen. Erst als die Ärzte die Diagnose Magenkrebs bestätigt hatten, offenbarte seine Mutter ihm, dass sie schon seit einer Weile unter Beschwerden gelitten hatte. Schlimmer, da sie vor zehn Jahren bereits gegen Brustkrebs gekämpft hatte, lehnte sie die Behandlung ihrer neuen Erkrankung ab. Sam war so wütend auf seine Mutter gewesen, weil sie sich weigerte, zu kämpfen, dass er das Undenkbare getan und sie aus dem gemeinsamen Familienhaus im Norden von Bemidji, Minnesota nach Miami verlegt hatte. Sie hatte den Umzug nicht einfach weggesteckt, doch zu dieser Zeit war Sam der Ansicht gewesen, keine Wahl zu haben. Er befand sich mitten in einem umfangreichen Verfahren und auszusteigen war keine Option gewesen. Er hatte einen häuslichen Pfleger engagiert, der seine Mutter versorgte, und war direkt wieder in seinem normalen Alltag aus Überstunden und fehlenden Wochenenden versunken, während die Krankheit seiner Mutter fortschritt.
Ein kurzer Blick auf seinen Computerbildschirm verriet ihm, dass er die Schlafenszeit seiner Mutter bereits verpasst hatte. Es war für ihn nicht ungewöhnlich, sie tagelang nicht zu sehen, während er arbeitete, doch dieses Mal hatte es nicht daran gelegen. Er konnte es schlichtweg nicht ertragen, nach Hause zu gehen. Als würde es seine Mutter vom Dahinwelken in seinem luxuriösen Miami-Apartment, das sie sich teilten, abhalten, wenn er es nicht mit eigenen Augen sah.
Sam verabscheute die Tatsache, dass Ian mittlerweile einen besseren Sohn abgab als er selbst, aber es war die Wahrheit. Mehrere Male war er aus der Wohnung gestürmt, weil Ian in der Lage gewesen war, den Schmerz seiner Mutter zu lindern, und Sam nicht. Sam wusste nicht, was er mehr hasste: dass er neidisch auf die Bindung war, die Ian zu seiner Mutter entwickelt hatte, oder dass er nachts nicht schlafen konnte, weil er sich so stark zu Ian hingezogen fühlte.
Die Schuld, die ihn in letzter Zeit ständig begleitete, ließ ihn nach seinem Telefon greifen.
»Hallo?«, meldete sich Ian.
»Ich bin's. Rufe nur an, um mich nach Mama zu erkundigen. Hatte sie einen guten Tag?«
Ein paar Sekunden verstrichen, ehe Ian antwortete. »Sie hat wieder den ganzen Nachmittag über den See geredet. Ich denke, sie glaubt, ich sei du, was in Ordnung ist, allerdings bin ich der Meinung, du wirst bereuen, die Geschichten, an die sie sich in diesen Momenten kurz erinnert, nicht zu hören.«
Sam rieb sich die Stirn. Die Tatsache, dass seine Mutter Ian regelmäßig mit Sam verwechselte, sagte wirklich alles. Ian sah ihm kein bisschen ähnlich. Sam hatte das nordische Aussehen seines Vaters und Großvaters geerbt, während Ians zum Teil südländische Herkunft ihm deutlich anzusehen war.
»Es ist schwer«, sagte Sam schließlich.
»Das weiß ich, aber eines Tages wirst du dir diese Momente zurückwünschen.«
Ja. Mittlerweile überschattete das schlechte Gewissen jeden Aspekt von Sams Leben. Seine kranke Mutter nach Miami zu verlegen war ein Riesenfehler gewesen, einer, von dem er dachte, er würde sich ihn niemals verzeihen. Doch jetzt, da sie kurz vorm Ende stand, hatte er entschieden, es war an der Zeit, sich den Tatsachen zu stellen. »Glaubst du, ihre Verfassung ist gut genug für die Rückreise nach Minnesota? Nächste Woche ist Weihnachten und ich würde ihr liebend gerne ein paar letzte Feiertage in unserem alten Haus geben.«
»Das hängt von deinen Plänen ab. Ich denke, sie ist stabil genug, um hinzureisen, aber wenn du länger bleiben möchtest, wird sie vielleicht zu schwach für den Rückweg sein«, sagte Ian.
Es fühlte sich an, als würde Sams Kehle anschwellen, während sich die unterdrückten Emotionen ihren Weg an die Oberfläche kämpften. »Ich hatte nicht wirklich vor, sie wieder zurückzubringen. Ich hab demnächst ein paar Urlaubstage und ich dachte, ich bespreche mit meinem Chef, ob ich sie einfach alle auf einmal nehmen kann. Ich weiß, das wird nicht wiedergutmachen, dass ich sie überhaupt erst von Zuhause weggeholt hab, aber ich dachte, es wird ihren Schmerz vielleicht ein wenig lindern, jetzt, da ihre Zeit fast vorbei ist. Das Problem ist nur, ich glaube nicht, dass ich mit dem Ganzen allein fertig werde.« Sam wusste nicht, warum er nicht einfach mit der Sprache herausrücken und Ian bitten konnte, sie auf dem Ausflug zu begleiten. Vielleicht lag es daran, dass er so gut wie nichts über Ians Familie wusste. Es war eine Schande, wirklich, ein weiteres seiner Versagen. Obwohl Ian seit drei Monaten in seiner Wohnung lebte, hatte Sam alles in seiner Macht Stehende getan, um sich nie in einem Raum mit diesem umwerfenden Mann zu befinden.
Sein Leben war zu kompliziert, um sich von der Befriedigung ablenken zu lassen, von der er wusste, dass Ian sie ihm willentlich geben würde. Nicht dass Ian eine Schlampe war, denn, ehrlich gesagt, kannte er ihn nicht gut genug, um diese Feststellung machen zu können, aber er war eben nicht blind. Sam nahm wahr, wie Ians Blick an ihm haftete, wann immer er sich im Zimmer befand. Vor ein paar Monaten wären die zwei eines Abends fast miteinander im Bett gelandet.
Während eines schwachen Moments waren bei Sam die Dämme gebrochen, als sie über den sich verschlechternden Zustand seiner Mutter gesprochen hatten. Ian hatte getan, was anscheinend in seiner Natur lag, und Beistand geboten. Die Situation war schnell eskaliert und die beiden hatten schon die Hälfte ihrer Kleidungsstücke verloren, als Sam wieder zur Besinnung gekommen war. Daraufhin hatte er sich überschwänglich für sein Verhalten entschuldigt und seitdem versucht, Ian aus dem Weg zu gehen.
»Hast du mich gehört?«, fragte Ian.
»Ähmmm, nein. Sorry. Was hast du gesagt?«
»Ich sagte, meine Schwester wird es verstehen, wenn ich an Weihnachten nicht hier bin«, meinte Ian.
Sam wusste, dass Ian ein Risiko für ihre Reise darstellte, doch einen alternativen Pfleger zu finden, der sich mit dergleichen Hingabe um seine Mutter kümmerte wie Ian, würde einfach nicht möglich sein. Seine Mutter benötigte nicht nur medizinische Hilfe, für die Sam selbst zu zimperlich war, sondern er wurde an ihren schlechten Tagen auch oft zu emotional, um in ihrer Nähe zu sein. Ian hingegen ging perfekt mit seiner Mutter um.
»Du wirst ein paar Absprachen mit dem Fluganbieter treffen müssen, damit wir sie überhaupt erst an Bord bekommen«, erinnerte Ian ihn.
»Ich weiß. Glaubst du, ich sollte erste Klasse buchen?«, fragte Sam.
»Ehrlich gesagt – ich glaube nicht, dass sie sich des Unterschieds bewusst sein wird.« Ian räusperte sich. »Ich versuche nicht, dir das Ganze auszureden. Ich denke, es ist das beste Geschenk, das du ihr machen könntest«, verdeutlichte Ian. »Ich muss nur sichergehen, dass du auf das vorbereitet bist, was passieren könnte, wenn sie zurück in dem Zuhause ist, das sie liebt.«
»Auf eine Sache hat meine Mutter immer wieder gepocht, als ich klein war: Du kannst deine Angst dich nicht von den Dingen abhalten lassen, die richtig sind. Klar, ich mach mir Sorgen darüber, was passieren könnte, aber ich darf mich davon nicht abhalten lassen.« Sam war auf keinen Fall bereit, seiner Mutter Lebewohl zu sagen, aber das Unausweichliche würde geschehen – ob er darauf vorbereitet war oder nicht.
Ian blieb einen langen Moment still. »In Ordnung. Sag mir einfach, wann du aufbrechen willst, damit ich alles vorbereiten kann.«
»Ich werd heute noch nach Flügen schauen.« Im Geiste machte sich Sam eine Notiz, Jim Weatherly anzurufen, den Mann, den er damit beauftragt hatte, sich um das Zuhause seiner Familie zu kümmern. Sam war sich nicht sicher, wie das Wetter in Turtle Lake war. Himmel, soweit er wusste, hätten sie auch in einen Schneesturm fliegen können.
»Klingt gut. Ruf mich an, wenn du das Büro verlässt, und ich wärm dir das Abendessen wieder auf.«
Das klang in Sams Ohren viel zu häuslich. Er konnte sich gut vorstellen, sich daran zu gewöhnen, wie Ian sich um ihn kümmerte – und das war inakzeptabel. So gern Sam ihn auch mochte, Ian würde fort sein, sobald der Zustand seiner Mutter…Nein. Sam schüttelte den düsteren Gedanken ab. »Ich bezahle dich, damit du dich um meine Mutter kümmerst, nicht um mich.«
»Wie du willst«, murmelte Ian, ehe er auflegte.
Sam ließ das Telefon sinken. Er drehte sich zum Fenster und stellte sich tosende Flammen vor, die in der riesigen Feuerstelle seines Zuhauses glühten. Das alte Holzhaus war von seinem Vater und Großvater errichtet worden, kurz bevor seine Eltern geheiratet hatten. Auch wenn sein Vater das Gebäude stetig ausgebaut hatte, war die Originalstruktur noch immer intakt und gut gepflegt. Er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob die vertraute Landschaft seiner Mutter guttun würde oder nicht. Er zweifelte nicht daran, dass sie es lieben würde, wieder von ihren eigenen Sachen umgeben zu sein, aber mit eben diesen Besitztümern kamen eben auch Erinnerungen an einen Mann, den sie geliebt und verloren hatte. Verdammt, es waren beinahe acht Jahre seit dem unzeitigen Tod seines Vaters vergangen und Sam hatte sich noch immer nicht mit dem Gefühl des Verlusts auseinandergesetzt. Vielleicht war das ja das Problem. Was, wenn ich unfähig bin, echte Emotionen zu verarbeiten?
Paula, eine Rechtassistentin der Firma, klopfte an seine offene Tür. »Ich hab die Untersuchung zum Fall Young, falls du Zeit hast, sie dir anzugucken?«
Scheiße. Sam schüttelte den Kopf. »Entschuldige, Paula. Ich muss schauen, ob Mr. Chessler frei ist. Ich muss mir ein paar Tage freinehmen, der Young-Fall wird also wahrscheinlich neu vergeben werden.«
Die hübsche junge Frau biss sich auf die Unterlippe. »Deine Mutter?«
»Ja.« Für Sam war es hart gewesen, die Nachricht über den schlechten Gesundheitsstatus seiner Mutter vor den Leuten geheim zu halten, mit denen er am engsten zusammenarbeitete, also nahm er ihr die Frage nicht übel. »Ich möchte mit ihr über die Feiertage nach Hause fahren.«
»Das ist toll«, sagte Paula.
Vielleicht. Sam war sich da nicht so sicher. Er öffnete seine unterste Schreibtischschublade und zog eine kleine verpackte Box heraus. »Für den Fall, dass ich dich nicht mehr sehe, bevor ich gehe, hab ich dir eine Kleinigkeit zu Weihnachten besorgt.«
Paula sortierte den Stapel Ordner auf ihrem Arm, bevor sie das Geschenk entgegennahm. »Vielen Dank, aber du weißt, das wäre nicht nötig gewesen.«
»Doch, das ist es und das wissen wir beide. Dank dir hab ich in der letzten Zeit Stunden an Arbeit gespart und ich wollte, dass du weißt, wie sehr ich das wertschätze.«
»Soll ich es jetzt öffnen?«, fragte Paula.
Sam schüttelte den Kopf. Ihm war immer ein bisschen unwohl dabei, Geschenke für Frauen zu kaufen. Von seiner Mutter mal ganz abgesehen, wusste er einfach nichts über sie und verstand nicht, über welche Art von Geschenk sie sich freuen würden. Paula hatte er am Ende einen Designerschal gekauft, weil ihm aufgefallen war, dass sie öfter ein Modell trug. »Nicht nötig.«
Paula stapelte den schmalen Karton oben auf ihre Ordner. »Gut, danke; und ich hoffe, der Besuch zuhause läuft gut.«
»Ich auch«, antwortete Sam.